26. Januar 2023

«Hier freuen sich die Schülerinnen und Schüler auf den Unterricht»

Kinder mit komplexen Erkrankungen müssen häufig länger im Spital bleiben. Ab dem ersten Tag hilft ihnen die Patientenschule einen geregelten Alltag beizubehalten. Das fördert das Gesundwerden. Schulleiterin Livia Salis-Wiget und Spitalpädagogin Corinne Stucki geben einen Einblick.

Ja, der Alltag …
«Alltag» klingt für viele Erwachsene negativ – er ist öd, stinklangweilig, gleichförmig vor sich hin trottend. Keine angenehme Vorstellung. Ganz anders sehen dies Kinder, die eine Zeitlang im Spital leben müssen.

Manchmal sind solche Kinder im Ausnahmezustand, alles ist fremd und teilweise belastend. Für sie bedeutet «Alltag» die Erinnerung an ein Leben ausserhalb des Spitals, an ein Leben, in dem alles eine Ordnung hat. Ein Leben, das keine Angst macht, Halt und Orientierung gibt.

Punkt elf Uhr. Corinne Stucki, die Pädagogin, öffnet die Türe zum Klassenzimmer. Freundliche Stimmung, Schulbänke, Zeichnungen, Dekorationen, die von der Decke hängen, ein Balkon. Gerade ist noch ein etwa 12-jähriger Schüler da und löst Mathematik-Aufgaben. Die anderen Schülerinnen und Schüler mussten früher gehen wegen Therapien und Arztterminen. Am Nachmittag geht der Unterricht an den Betten weiter.
Der Schulweg im Spital ist anders: Wenn ein Kind nicht selbst gehen kann, wird es kurzerhand im Rollstuhl oder gar Spitalbett hineingeschoben.

Ein Stück Alltag

Das ist die Patientenschule. Corinne Stucki ist eine von fünf Lehrpersonen für den schulischen Unterricht. Neun weitere Lehrpersonen unterrichten Werken und Gestalten. Schulleiterin ist Livia Salis-Wiget. «Wir unterstützen die Kinder darin, den Anschluss an die Stammklasse wahren zu können», sagt sie.

Hier sind die Kinder keine Patienten. Hier sind sie Schülerinnen und Schüler wie im Alltag. «Es gibt keine weissen Kittel», sagt Livia Salis-Wiget und fügt hinzu: «Für Kinder ist das Lernen hier zukunftsorientiert. Dadurch geht ihr Blick nach vorn. Sie sehen, dass es nach ihrer Krankheit weitergehen wird.»

Am Morgen in der Gruppe

«Manches Kind hat das Gefühl, mit seiner Krankheit ganz allein auf der Welt zu sein», sagt Corinne Stucki. Da könne es tröstlich sein, wenn es in der Gruppe andere Kinder treffe mit einem ähnlichen Schicksal. Vielleicht könne es sogar Freundschaften schliessen.

Die Gruppen sind altersdurchmischt, alle Schulstufen und Schultypen sind hier vertreten. Die Grösseren unterstützen oft die Kleineren.

Vormittags sind drei Lektionen in den Kernfächern Mathematik und Sprachen vorgesehen. Manchmal muss ein Kind jedoch zu einer Therapie oder einem Gespräch gehen. «Es kommt immer alles anders als man geplant hat», sagt Corinne Stucki. Das mache es anspruchsvoll. Livia Salis-Wiget sagt dazu lachend: «Man muss Abenteuerlust und Flexibilität mitbringen, wenn man hier arbeiten will».

Nachmittags geht Corinne Stucki auf die Stationen zu jenen Kindern, die nicht zum Morgenunterricht in der Gruppe kommen können. Einige haben eine ansteckende Krankheit, andere sind nicht stark genug, wieder andere müssen sich vor Kontakt mit anderen Kindern schützen. Sie erhalten je eine Stunde Einzelunterricht, zusätzlich kommt eine Werklehrerin zu ihnen.

«An der Patientenschule kann ich den Schülerinnen und Schülern nahe sein. Ich kann mich sehr stark auf ein Kind einlassen und sehe, wie es ihm geht. Oder welche Pläne es hat. Da lernen wir uns schon kennen», sagt Corinne Stucki. Livia Salis-Wiget: «Hier freuen sich die Kinder meistens auf die Schule, weil sie Abwechslung und immer wieder auch Freude in den Spitalalltag bringt.»

Vielfalt der Lehrmittel

Corinne Stucki öffnet einen Schrank. Ein typisches Stück Schweiz kommt zum Vorschein: eine bunte Sammlung Lehrmittel aller möglicher Schultypen und Bildungsstufen verschiedener Kantone und Regionen, jeweils in Deutsch und Französisch. Jedes muss die Lehrperson kennen.

Beim Fenster steht ein grasgrün bemalter Rollschrank. In der Schublade «Bauen–Statik» glänzen Lego-Klötzchen. Aus der Schublade «Sinne» duftet es nach Nelken, Lavendel und Zimt.

Vermehrt arbeiten die Schülerinnen und Schüler gemeinsam an Projekten, wo sie ein Thema aufbereiten, sich vertiefen und grübeln können. Ausserdem finden regelmässig «Machmittage» statt, an denen das Gruppenerlebnis gefördert wird.

Persönliches

Corinne Stucki, ausgebildete Sekundarlehrerin, arbeitet seit bald 25 Jahren an der Spitalschule als Spitalpädagogin. Sie ist auch stellvertretende Schulleiterin und unterrichtet Schülerinnen und Schüler jeden Alters auf allen Stufen. In ihrer Freizeit hält sie sich oft in der Natur und auf dem Wasser auf. Sie kocht sehr gerne, lädt Freunde dazu ein, um sich in der Tischrunde in Gespräche zu vertiefen. Corinne Stucki ist Mutter zweier Töchter (18 und 20) und wohnt in Twann-Tüscherz am Bielersee.

Die Schulleiterin der Patientenschule Livia Salis-Wiget arbeitet zusätzlich als schulische Heilpädagogin an einer Klasse zur besonderen Förderung (KbF), als IF-Lehrperson sowie als Fachleiterin für besondere Massnahmen in verschiedenen Gemeinden. «Dadurch reise ich viel herum», sagt sie. In der Freizeit mag sie es mit dem Rucksack beim Wandern oder mit dem Stock beim Unihockey. Sie singt gerne und spielt auf Gitarre, Geige. Livia Salis-Wiget ist Mutter zweier erwachsener Töchter und wohnt in Moosseedorf.

(Text: Peter Rüegg)

Im Spital zur Schule gehen

Kinder und Jugendliche im Alter von 4 bis 16 Jahren (vom Kindergarten bis zum neunten Schuljahr) besuchen während ihres Spitalaufenthaltes die Patientenschule, wenn ihre Gesundheit dies zulässt. Das Zur-Schule-Gehen bringt ihnen einen gesunden Alltag näher, weckt die Freude am Lernen und bereitet sie auf die Zeit nach dem Spital vor. 

In der Schule erhalten sie sowohl schulischen als auch gestalterischen Unterricht, entweder in der Gruppe in einem Klassenzimmer oder im Einzelunterricht an den Betten. Patientenschule an der Kinderklinik Bern

University Cancer Center Inselspital (UCI)

UCI – Das Tumorzentrum Bern ist ein führendes Schweizer Zentrum für die Diagnose und Behandlung von Krebs. Patientinnen und Patienten mit einer Krebserkrankung finden am Tumorzentrum Bern ein breites Angebot von individuell zugeschnittenen Therapieansätzen. In zwölf Organzentren werden sie von hochspezialisierten Teams betreut.www.tumorzentrum.insel.ch

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